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Artikel in der Welt am Sonntag vom 16.12.2001

Kap-Hornier hart am Wind

Kapitän Rudolf Wittenhagen ist manches Mal am Untergang vorbeigeschrammt. In WELT am SONNTAG erzählt er zum ersten Mal seine aufregendsten Abenteuer

Von Svante Domizlaff und Peter Geller

In der Kapelle der Marineakademie von Valparaiso singen die Kap Horniers "Nun danket alle Gott". Sie singen in spanischer, englischer, finnischer und deutscher Sprache, aber es klingt wie aus einem Guss. Bei der Lesung des 106. Psalms, der erzählt "von denen die hinausfuhren auf Schiffen übers Meer und sahen die Wunder des Herren über der Tiefe", da fühlen sie, das sie selbst gemeint sind. Und die Erinnerung weht wie eine warme Brise durch das Kirchenschiff.

Ganz vorn sitzt Kapitän Rudolf Wittenhagen, 74, aus Hamburg. Er trägt mehr Windjammer-Seemeilen auf seinem Buckel, als alle anderen in diesem Raum: Erst als Matrose, später als Offizier auf "Pamir" und "Passat", dann zwölf Jahre als Kapitän des Beck's-Bier Seglers "Alexander von Humboldt". Nur bei Kap Hoorn war er noch nie. Deshalb haben sie ihn zum Ehren-Kap-Hornier gemacht.

Unten am Hafen der chilenischen Stadt, die so vielen Windjammern als Zielhafen diente, hat er bei der Nationalhymne feierlich die deutsche Flagge gehisst und die dänische gleich dazu, denn aus Dänemark ist niemand mehr nach Chile gekommen. So soll wenigstens die Flagge dabei sein.

Wittenhagen: Ein Löwenschädel mit einem schneeweißem Bart in dem breiten, gutmütigen Gesicht. Hoch wie ein Leuchtturm ragt er auf. Seine Brust ist so breit wie ein Großmast. Ein Kerl wie zwei. Und tatsächlich: für den Flug nach Chile hat er sich gleich zwei Tickets gebucht, wegen des Leibesumfanges. Da hockte er eingequetscht wie ein Wal im Zimmeraquarium. "Immerhin gab's Frühstück doppelt," freut er sich. So redet ein Kap Hornier - nie klagen, dem Leben die guten Seiten abgewinnen. Und überhaupt: Was gibt's Schöneres als "einen Zipfel Wurst inhalieren?"

Rudolf Wittenhagen ist manches Mal am Untergang vorbeigeschrammt. Er weiß, man kann nicht nur bei Kap Hoorn in Bedrängnis kommen. Seine aufregendste Geschichte ist noch nie erzählt worden. Sie spielt im Jahre 1955, als die Viermastbark "Passat" wieder in Dienst gestellt wurde, um - gemeinsam mit der "Pamir" - als frachttragendes Schulschiff in der Getreidefahrt nach Südamerika zu fahren. Wittenhagen ist als II. Offizier an Bord und für die Navigation zuständig.

"Dreißig Monate hatte die "Passat" in Travemünde aufgelegen. Wir verlassen den Hafen unter Kapitän Helmuth Grubbe mit 79 Mann Besatzung. Der Kapitän entschließt sich, die Nordroute zu nehmen, rund Schottland. "Wir segeln hart am Wind bei 8 Windstärken. Auf der Höhe von Bergen in Nordnorwegen dreht der Wind nach vorn und nimmt weiter zu. So kommen wir nie um Schottland, also zurück in den englischen Kanal. An die Brassen! Wir drehen durch den Wind und laufen zurück. Die See ist grob, viel Wasser an Deck. Auf der Doggerbank weht es in voller Sturmstärke."

"Am 21. Oktober müssen wir nach meinen Berechnungen gegen Mitternacht die Downs, die Sandbänke vor der Themsemündung erreicht haben. Die See wird brutal. Ein Bulleye auf der Brücke wird von Brechern eingeschlagen. Grundseen schaufeln Sand an Deck. Mit Donnergetöse fliegt das Obermarssegel davon. Drei weitere Segel folgen. Sorgenvoll blickt der Kapitän erst auf die Seekarte und dann zu mir, dem Navigationsoffizier."

"Wittenhagen, stimmt Ihre Position?"

"Die stimmt, Herr Kapitän!"

"Aber ganz wohl ist mir in meiner Haut nicht. Hatte der Rudergänger mir die gesteuerten Kurse richtig genannt? Hatte ich die Geschwindigkeit richtig abgelesen?"

"Wir wollen uns mal vorsichtshalber von Land einpeilen lassen", beschließt der Kapitän. Scheveningen und St.Peter Ording sind die Peilstationen. Der Funker gibt den vereinbarten Peilton.

"Wenige Minuten später haben wir die gepeilte Position. Wir stehen mitten zwischen den Bänken und können bei unserer tollen Fahrt jede Sekunde auflaufen! Der Kapitän wird bleich. Mir läuft ein Schauer über den Rücken."

"Wittenhagen, stimmt ihre Position?"

"Jawohl, Herr Kapitän. Die stimmt!"

Und sie stimmte tatsächlich. Eine zweite Funkpeilung brachte ein ganz anderes Ergebnis und stimmte mit Wittenhagens errechneter Position überein. Als in der Morgendämmerung das Feuerschiff "Outer Gebbard" auftauchte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. "Es war wohl mehr ein Felsen."

Die Reisen der "Pamir" und "Passat" allerdings nahmen kein glückliches Ende. Am 21. September 1957 sank die "Pamir" im Hurrikan bei den Azoren. 80 Mann der Besatzung ertranken, nur sechs überlebten. Die "Passat" wurde daraufhin außer Dienst gestellt und fristet nun in Travemünde ein Leben als Denkmal.

Zwei Tage nach dem "Pamir"-Untergang legte Wittenhagen vor einer hell aufgeregten Kommission seine mündliche Kapitänsprüfung ab. Er bestand mit Bravour.

Heute ist Kapitän Rudolf Wittenhagen selbst ein Denkmal aus einer Zeit, die mit der Auflösung der Kap-Hornier-Runde endgültig vorbei, aber nicht vergessen ist.

Hier finden Sie diesen Artikel auch im Online-Archiv der Welt am Sonntag:

http://www.welt.de/daten/2001/12/16/1216hk302770.htx

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